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J E A N-M A R I E...T A S S E T
aus dem Französischen von Uli Aumüller Das doppelte ICH des Max Neumann Malerei muss so komplex sein wie die Wasser-, Gas- und Stromversorgung. So kompliziert wie die Verzwicktheit äußerer Umstände, die eine Badewanne, ein Auto, einen Berg und einen Golfball vereinen. Denn einzig die Komplexität der Kunst kann Rechenschaft über die scheinbare Einfachheit der Realität ablegen. Die zeitgenössische Malerei muss, selbst wenn sie sich an die Massen richtet, so schwierig sein wie die Strukturen, die der Menge Freizeit und die Möglichkeiten zum Lesen und Schreiben gegeben haben. Sonst könnte der zunehmende Rückstand des Humanismus auf die Technologien den Menschen der Maschine ausliefern. Weil Max Neumann sich dieses Problems bewusst ist, versucht er es zu lösen. Dieser deutsche Maler, der in Berlin lebt und arbeitet, ist zweifellos einer der besten Künstler seiner Generation. In Anbetracht der allgemeinen Mittelmäßigkeit der an einer Epidemie ausgelassener Freude laborierenden Gegenwartskunst mag dieses Kompliment fast schwach erscheinen. Worin liegt denn nun der Unterschied zwischen seiner Arbeit und der der Neo-Expressionisten? Er ist einer der wenigen Künstler dieser ersten Seiten des 21. Jahrhunderts mit einer unbestreitbar erregenden Kraft in der symbolischen Sicht. Nicht der eines Anselm Kiefer, der über den Mythos und die Geschichte hinwegstreicht und dabei ein ungeheuer weites Feld malerischer Techniken und kultureller Bezüge abdeckt. In Neumanns Werk ist die Methode sozusagen umgekehrt. Sein zentrales Motiv ist die Zeit des Menschen, das Warten, die Alltäglichkeit, die Unmöglichkeit der Kommunikation, die pessimistische Entfremdung, wozu eine Geschichte schweren Leides das menschliche Bild hat zusammenschrumpfen lassen. Seine Figuren haben keine Psychologie, keine Individualität im klassischen Sinn : es sind Schatten, Gestalten, Silhouetten, Verkörperungen einer bestimmten Situation des Menschen, dem sogar sein Gesicht abhanden gekommen ist. Wir sind weit entfernt von Francis Bacons aischyloshaften Furien, von seinen Transformationen von Körpern in Fleisch. In ein “bemanntes” Selbstgespräch geflüchtet, kommt in Neumanns anonymen Figuren eine ungeheure plastische Kraft zum Ausdruck. Die kollektive Psyche ist implodiert : es bleiben nur noch diese direkt auf dem Körper sitzenden GESICHTSLOSEN, die in der Kahlheit des Raumes kurz davor zu sein scheinen, zu verstummen, einzuschlafen, kurz davor, in Schweigen zu versinken. Sie sind an der äußersten Grenze der universellen modernen Entwurzelung. Man sieht sie an, wie man einer verstummenden Stimme zuhört. Daher rührt die nahezu abstrakte Entblößtheit seiner auf ihre reine Essenz reduzierten Kompositionen ohne Titel, reduziert auf Rot, Schwarz, Weiß, Dunkelgrün, Senfgelb und jetzt nur auf Weiß und Schwarz. Selten war ein Künstler so rigoros, so treu gegenüber dem existentiellen Raum, in dem er malt, sei es in seinen Gemälden, seinen Zeichnungen oder in seiner Druckgraphik. Neumann gibt nur das Bezeichnende, Entscheidende, Unerlässliche an und lässt körperliche Züge und Landschaften so weit wie irgend möglich weg. Auf monochromem Grund ohne malerisches Relief, rasch und flüssig mit Tempera oder Öl aufgetragen, zeichnen sich in sehr strengen Pinselzügen unvermittelt, vereinzelt, seine großflächigen GESICHTSLOSEN und ihr Double ab. Wenig Dekor : ein Tisch, eine Wand, ein Sofa, ein Kasten, ein Flur, Treppen. Neumann hinterlässt auf diesen Silhouetten Spuren und verwendet manchmal fertige Bilder (Pressephotos, Porträtschablonen), die, verändert, ausgeschnitten, neu zusammengesetzt, in die entstehende Arbeit hineingeklebt werden. Manchmal verlässt der Maler den Menschen, um Hunde, geschorene Schafe in verödeten, trostlosen Räumen darzustellen. Selten war Malerei der Stimme und dem Körper so nah. Im Gegensatz zu seinen deutschen Zeitgenossen geht Max Neumann der Geschichte aus dem Weg. Alles, was in seinen Kompositionen geschieht, reduziert sich auf die Dimensionen eines Menschen, der nirgendwo ist, nicht situierbar und nicht situiert, jenseits und unterhalb der Geschichte. Neumann ist in jener Mitte des 20. Jahrhunderts geboren, seit der der Mensch keine Illusionen mehr über den in ihm schlafenden Unmenschen haben kann. Die zwei Weltkriege, in denen die Menschheit sich gegenübergestanden hat, die zwei verbrecherischen großen Ideologien, die den Menschen marterten, haben genügt, um eine Zivilisation zunichte zu machen, die sich für unsterblich hielt. Seither wissen wir, dass von den ersten Minuten eines Krieges an jede Existenz pulverisiert, atomisiert werden kann. Neumann weiß es auch. Er gehört zu jener Generation, die das Gefühl hat, “zu spät in eine zu alte Welt hineingeboren” zu sein, denn die Überflussgesellschaft schließt jeden in Einsamkeit ein. Und die einsame Masse ist eine Myriade von kleinen inneren Ghettos, in denen jeder Einzelne, sich selbst und den anderen fremd, auf der Suche nach seiner Identität ist. Hier nun erscheint Max Neumanns doppeltes Ich. Von außen belagert und von innen bedroht, hat der gesichtslose Mensch ebenso viel Angst vor sich selbst wie vor der Welt. Wenn er sich verbarrikadiert, dann mit seinem Double, einem verschreckten, verzweifelten, ohnmächtigen kleinen Menschen, der sich allein inmitten einer Welt wiederfindet, in der nichts ihn widerspiegelt, alles ihn verleugnet und zurückweist, ihn im Gefängnis seiner Einsamkeit einsperrt. In der Malerei heißt Revolution nicht, neue Techniken für Themen von gestern erfinden, sondern Neues erspüren und lernen, es zu sagen. Und Neumann versteht, es zu sagen. Gewollt banal, mit nahezu choreographischer Präzision verleiht er jenem verlorenen anonymen kleinen Ding, dem Ich, in einer Zivilisation, die ihm bestenfalls die Entfremdung, schlimmstenfalls die Apokalypse zu bieten hat, eine graue Eloquenz. Einer Zivilisation, die die Menschen auf den Mond schickt und ihnen hienieden ein schlechtes Leben bereitet. In Neumanns Werk spricht nicht ein gewisser Max Neumann, geboren in Saarbrücken, zu uns, sondern es spricht eine Stimme, die in gewisser Weise die Stimme aller ist, die Stimme des Menschen, aller Menschen. Den Menschen und sein Double, irgendeinen Menschen in irgendeinem Land, im Nirgendwo der leidenden Existenz malen zu können, das ist die Größe dieses Werkes. < |