MAX NEUMANN

R O L A N D..H....W I E G E N S T E I N


Max Neumann - Erfahrungen aus zwei Jahrzehnten


Es begann 1980 mit einem schmalen Hochformat: 15o x 6o cm, sehr grobes Papier, ungefähr in der Mitte, etwas nach unten verschoben, mit einem 5o cm breiten Stück Leinwand überklebt. Im oberen Teil des Bildes ein im Profil mit Bleistift gezeichneter, aus schwarzem Hintergrund hervortretender Kopf. Im Mittelteil ein mit weißen Pinselstrichen angedeuteter Körper, im unteren Drittel zwei zinnoberrot angelegte Füße. Im Mittelteil zudem das Wort „Du“ – mit einem Fragezeichen versehen. Ich sah dies Bild in einer Berliner Galerie, wollte es erwerben, doch der Künstler sträubte sich zunächst, schließlich gab er nach. (Offenbar war es für ihn zu wichtig, um einen sofortigen Verkauf zuzustimmen.)
Das vorläufig letzte Bild, das wir bekommen konnten, stammt aus dem Jahr 2002: eine Monotypie, sehr dunkel, die sich mit dem portugiesischen Dichter Pessoa auseinandersetzt ohne doch je illustrativ zu sein. Essenz eines großen poetischen Textes, übersetzt in ein anderes Medium.
Kurz davor fand ein großes Querformat (15o x 2oo cm) zu uns. In der linken, etwas kürzeren Hälfte senkrechte Balken in einem so dunklen Grün, dass es schwarz wirkt, sie sind verschieden dick, stehen mit scharfen Kanten auf einem hellen Braun: eine „konstruierte Fläche“, irritierend durch eine Reihe kleiner, schablonierter mattgelber Profilfiguren in den braunen Partien, die die rigide Form gleichsam unterlaufen; die rechte Bildhälfte dominiert eine riesige braune Halbfigur auf dem selben satten Dunkelgrün: Kopf, Schultern, Arme, die sich zusammenfindend, zwischen dem, was Hände sein könnten, wiederum eine fast schwarze, kreisförmige Fläche umschließen. An die menschliche Anatomie erinnert diese Form nur noch so, wie ein Idol, das einem im Traum erscheint.
In diesem Bild wird die ganze Erfahrung deutlich, die der Maler MAX NEUMANN in über zwanzig Jahren konsequenter Arbeit erworben hat. Natürlich hat er in dieser Zeit seine eigene Ikonografie entwickelt: es gibt Formen und Figuren, die wiederkehren, aber in je anderem Zusammenhang, nie als bloße Wiederholung, vielmehr als Erinnerung an etwas, das es schon einmal gab, das neu erobert werden muss. Neumann fängt immer von vorne an, vor dem leeren Blatt, der leeren Leinwand. Serielles Arbeiten, die bloße Abwandlung von etwas einmal Gefundenem ist ihm ganz fremd.
Doch es gibt Konstanten, formale wie inhaltliche. Alle seine Konfigurationen spielen sich in der Fläche ab, sie verzichten auf die Zentralperspektive, die Jahrhunderte lang zum Kanon europäischer Kunst gehörte, insofern sind sie Teil des Traditionsbruchs, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts statt hatte. Wenn es bei Neumann verschiedene Bildebenen gibt – und es gibt sie – so sind Vordergrund und Hintergrund nicht „nach der Natur“, nach der Illusion der Mimesis konstruiert, sie gehorchen vielmehr formalen Prinzipien, dem Eigen-Sinn von Farben und Konturen, die sich zu einer (prekären) Hierarchie verstehen: für dies eine Bild.
Neumanns Bildern sieht man fast stets an, dass er ein glänzender Zeichner ist. In der Tat gehören die vielen Zeichnungen integral zu seinem Werk: es gibt keine „Rangfolge“, die etwa den großen Arbeiten auf Leinwand einen besonderen Platz zuwiese. Er „zeichnet“ auch mit dem Pinsel, große Farbflächen tauchen erst relativ spät in seinem Werk auf, dominieren selten, und auch, wenn sie auf den ersten Blick ein Bild prägen, bemerkt man häufig (wenn schon nicht immer) die begrenzenden Linien, die mit einer scharfen Kante die Farbflächen von einander trennen. In seinem zeichnerischen Oeuvre, das die Bilder begleitet, fehlen Skizzen, Entwürfe zu Bildern, es ist völlig autonom. Neumann hat sehr lange überwiegend mit Leimfarben und nur selten mit Ölfarben oder Acryl gearbeitet. Die Bezeichnung „Mischtechnik“ bezeichnet die Geheimnisse seiner Mixturen korrekt. Es ist ganz und gar seine Technik. Zu der es auch gehört, selbst große Bilder auf Papier zu malen (dem idealen Medium fürs Zeichnen!) und sie erst später auf Leinwand aufziehen zu lassen. So wie es zu seiner unorthodoxen Arbeitsweise gehört, in der Druckgrafik neue Wege zu gehen: auch hier Mischtechniken (Radierung, Karborundum), auch hier ungewöhnliche (sehr große) Formate, die er mit oft kaum fassbarer Virtuosität bewältigt. Und immer wieder Monotypien, so als müsste er auf die Einblatt-Drucke des frühen Mittelalters seinen eigenen Reim finden. Neumann „experimentiert“ und niemand – nicht einmal er selbst – weiß, wohin diese Experimente führen. Das betrifft nicht seine Absichten - die sind lange überlegt - sondern das Ergebnis. Er lässt sich überraschen von der eigenen Arbeit. Ein Maler ohne „Programm“, abhängig von dem, was ihm „einfällt“, was sich ihm in einer bestimmten Phase seiner Arbeit „aufdrängt“, an Neuem oder an dem, was sich wiederum meldet.
Diese Mischung von Kalkül (in der Farbgebung, im malerischen Gestus – auch den gibt es - in Verteilung der „Gewichte“ eines Bildes, in dem, was man dessen „Konstruktion“ nennen könnte) und riskanter Spontaneität ist typisch für Neumanns Werk.
Das gilt nicht nur für die formalen Kriterien seiner Arbeit, sondern genauso für die inhaltlichen. Kein Zweifel, er ist ein „figuraler Maler“, einer der mit menschlichen Figuren zu tun hat, auch mit Tieren, mit Gegenständen, nur in seltenen Fällen übrigens mit Landschaften – er hat so gut wie keine „Veduten“ geschaffen und – soviel ich weiß – nie ein „gegenstandsloses“, abstraktes Werk. Doch Anlage und Ausführung seiner Figurationen widersprechen dem naturalistischen Augenschein diametral. Sie verweigern die „Geschichten“, die sie zu erzählen vorgeben und verändern sich im Kopf des Betrachters je nach dessen Befindlichkeit, das heißt, sie verlangen seine aktive Mitarbeit. Beiläufig konsumierbar sind Neumanns Bilder und Zeichnungen nicht. Was einem den Umgang mit ihnen zur ständig neuen Entdeckungsarbeit macht, ist die profunde Unsicherheit dem gegenüber, was diese Bilder „meinen“ könnten. Eine stehende Figur auf einem Bild, das in seinem linken Teil eine Öllampe mit einer hohen Rauchfahne zeigt, lässt sich die Figur rechts als verschleiertes Bildnis von Sais deuten, sie kann aber auch eine in die Senkrechte gestellte Mumie darstellen.
Die schwere Männerfigur, deren Gesicht und deren Füße aus vergilbenden Zeitungsseiten bestehen, kann als gewalttätige Schreckgestalt erscheinen, zumal in der Trommel neben seinen Beinen auch noch ein Totenkopf und eine zusammengekauerte Tiergestalt (oder ist es ein Embrio?) kenntlich sind, die eine Hand einen Fisch umklammert, von dem nur Kopf und Schwanz heil geblieben sind. Ein schwieriges, düsteres Bild. Bei anderer Beleuchtung aber fängt der Bildgrund an zu glühen, das Blau-Violett wird beinah durchsichtig, man sieht die vielen Schichten, aus denen dieser Bildgrund besteht und plötzlich wird (mindestens für uns, die wir seit gut zehn Jahren mit diesem Bild täglich „umgehen“) eine historische Assoziation evident, die der Maler selbst vermutlich nie gehabt hat, es eröffnet sich eine neue Dimension: das Bild ohne Titel wird zur Paraphrase eines Porträts, das Edvard Munch zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem deutschen Politiker Walter Rathenau gemacht hat. Dieselbe Haltung, dieselbe verdeckte Melancholie, derselbe stolze Trotz! Doch das Bild reflektiert die vielen Jahrzehnte, die seit Munch vergangen sind – auch die Verdüsterung der Zeitläufte. Für die sind Neumanns Arbeiten sehr empfänglich. Er gilt vielen als ein „schwieriger“, ja „schwerer“ Künstler. Gewiss daran ist, dass seine Kunst mit jener fatalen „Leichtigkeit des Seins“, wie sie die Konsumwelt vorgaukelt, nichts zu tun hat. Wohl aber mit einer Haltung gegenüber dem Leben, der Ironie nicht fremd ist. Wer außer ihm weiß so souverän mit einem Totenschädel zu spielen, seit Hamlet den Yoricks besprach? (Von Picasso wollen wir dabei einmal absehen!) Man entdeckt einen niemals geheuren, aber immer wieder das Lachen (mindestens eine Grimasse) provozierenden Humor , die Komik von beschädigten Wesen, die mit einem durch nichts begründeten Überlebensmut einfach dem verhängten Schicksal eine Fratze schneiden. Wohlfeiles Mitleid ist von Neumanns Kunst nicht zu erwarten, Zuwendung gegenüber den ausgesetzten, den von ihm erst erfundenen Geschöpfen schon. Es gibt Interpreten, die Samuel Beckett für einen großen Humoristen handeln. Neumann ist vom selben Schlag. Und gelegentlich gestattet er uns auch ein Lächeln, wenn er nämlich eine seiner Figuren zärtlich behandelt. Es gibt solche Bilder.
Sich mit ihm einzulassen bleibt ein Abenteuer, aber wer es riskiert, der wird sicher nicht auf die Idee kommen, auch nur eines der Bilder wegzugeben. Sie werden Teil des Seelen- wie des Formenhaushalts derer, die damit umgehen. Das einzige, was sie nicht vertragen ist, dass man sie übersieht. Sie sind nicht bloß vorhanden, an den Wänden, in den Mappen – sie fordern ständige Aufmerksamkeit und die Ergänzung des Bestandes. Irgendwann ist man quasi gezwungen, jede Phase dieses vielschichtigen Werks um sich zu haben, seine Wendungen, Neuerungen, Rückgriffe. Es ist ein treuer, wenn schon nicht immer leicht zu ertragender Begleiter, und es enthält schließlich auch so etwas wie ein Glücksversprechen, gut verborgen, aber doch spürbar: dass nämlich zwar auf dieser Welt alles irgendwann schief geht, dass es aber bis dahin Grund gibt, sich mit Kunst einzulassen und sie zu lieben.



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